Auswahl aus Themen und Publikationen der vergangenen Jahre.
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Endlich frei und ungestört leben!
Wie Big-Data unser
Leben übernommen hat.
August 2016
Es wird Zeit, gegen die vernetzte Gesellschaft aufzustehen. Denn die völlig unkontrollierte und kritiklos hingenommene Verknüpfung aller verfügbaren Daten wird die Menschheit in vielen gewohnten Freiheiten beschneiden.
Mit Begeisterung erzählt ein junger „Zukunftsforscher“, sowohl das IBM-Computerprogramm Watson, das in der amerikanischen „Jeopardy-Show“ im Februar 2011 gegen menschliche Kandidaten gewonnen habe, als auch Alpha-Go von google, das bis zum 15. März 2016 den Koreaner Lee Sedol im weltweit schwierigsten Go-Spiel besiegte, seien von ihren Erfindern im Rahmen der „Deep-QA-Forschung“ „selbstlernend“ konzipiert worden. Sie hätten sich alle Shows und Spiele „angesehen“ und daraus selbstständig Algorithmen entwickelt, die dazu geführt hätten, dass die Computer gewinnen konnten. Ehrfurcht schwingt in seiner Stimme.
Doch warum ist keine Vorsicht, keine Kritik zu spüren? Warum sprechen data-addicts so, als seien diese Dinge höchst erstrebenswert, wichtig und deshalb sogar unaufhaltsam und schon 2025 gang und gäbe?
Sie scheinen nicht zu sehen, dass der Schritt, Computer selbst lernfähig zu gestalten dazu führen wird, dass ihre Lernfähigkeit auch dann, wenn sie sich gegen die Menschen wendet, nicht mehr abschaltbar sein wird, denn der Computer hat dann gelernt, was die Menschen gegen sein Handeln tun werden. Vielleicht wird es dann sogar unmöglich sein, den Computer vom Netz zu trennen und den Strom abzuschalten, wenn man dagegen keine Vorkehrungen trifft. Aus Alpha-Go wird No-Go!
Wenn der weltweite Datenverbund Big-Data die Kontrolle übernommen hat, wird sich das Wissen und die Technologie gegen alle Menschen wenden, die nicht einem genormten Idealschema entsprechen.
Erstaunlich ist, dass wir nicht wahrnehmen, wie sich unser Leben wandelt. Es ist mehr als nur „anders als früher“, wo doch der Mensch schon immer mit Veränderungen gelebt hat. Es geht auch nicht um das Glorifizieren der guten alten Zeit. Es geht um die wache Beobachtung unserer Lebensumstände.
Das paradoxe: während wir uns selbst kaum beobachten und vor uns hin leben, werden wir selbst immer genauer beobachtet. Die Technik macht es möglich, heute jede Regung jedes Menschen automatisch zu dokumentieren und es Maschinen zu überlassen, die Milliarden Daten zunächst zu ordnen, dann auszuwerten und schließlich nach immer neuen Algorithmen zu verknüpfen.
Wir stehen morgens auf, der eine um 6, ein anderer um 7, der Dritte um 9. Der eine tut es täglich gleich, der andere nicht, der eine ist jung, der andere alt, männlich oder weiblich, beschäftigt oder arbeitslos, verheiratet, ledig, mit oder ohne Kinder - allein das morgendliche Aufstehen lässt dank der neuen Smartmeter-Stromzähler und der IP-Adressen jedes Elektrogerätes Millionen von Rückschlüssen und Verbindungen zu.
Die kann man nutzen. Aus den Morgenritualen der 1,5 Millionen Münchner errechnet ein Computer seit Jahren blitzschnell den Strombedarf - man weiß, wann sie in welche Verkehrsmittel steigen und bestellt pünktlich für 7.30 Uhr bei den Illwerken in Vorarlberg zusätzlichen Strom für den Verkehr und die aufwachende Arbeitsinfrastruktur. Um 7:25 Uhr öffnen sich die Wasserschleusen des im Silvretta-Massiv versteckten Kopswerkes und es stürzt genau so viel Wasser aus den Speicherseen über die Turbinen, dass der Strom genau passend nach München geliefert werden kann. Energy on demand - tägliche Wirklichkeit, im Sommer anders als im Winter...
Interessant ist der Umkehrschluss: was geschieht, wenn der Computer die Daten nicht liefert? Was geschähe, wenn eine Massenpanik, wie sie in München vor zwei Wochen beinahe entstand, entweder alle Verkehrsströme lahmlegt oder sie überbeansprucht? Dann kommt es zum energetischen Gau, von dem die Illwerke einen kleinen Teil abfedern indem sie den Münchnern den überschüssigen Strom abnehmen und damit Pumpen betreiben, die wieder Wasser in die Bergspeicher drücken! Das Management der Elektrizität ist lebenswichtig. In seinem Buch „blackout“ entwirft der Autor Marc Elsberg ein realistisches Horrorszenario: Ohne Stromnetz geht als Erstes das Licht aus. Dann brechen die Wasser- und die Nahrungsmittel-versorgung samt Kühlkette zusammen, Krankenhäuser müssen den Betrieb einstellen, und die Kommunikation wird gestoppt. Supermärkte und Tankstellen schließen. In den Häusern versagen die Heizungen. Nach einer Woche ohne Strom steht die westliche Welt vor dem GAU.
Zurück ins morgendliche München. Nach dem Aufstehen um 6:30h setzt Frau Huber Kaffeewasser auf, schaltet das Radio ein für die Nachrichten und checkt schnell die mails, während ihr Mann duscht und sich fertig macht. Aus dem Toaster fliegen aufgebackene Brötchen, inzwischen brennt in drei der vier Zimmer Licht. Herr Huber zieht sein smartphone vom Ladestecker und gibt seiner Frau die Autoschlüssel, denn er hat sich heute eine Bahnverbindung reserviert, mit der er mittags vom Büro aus zum Kunden fährt. Punkt 7 Uhr velassen die Hubers ihr Haus, die Waschmaschine läuft, die Lichter sind aus, der Geschirrspüler gluckert. Frau Huber nimmt ihren Mann mit zur S-Bahn, dann fährt sie zur Schule, an der sie Lehrerin ist, stoppt aber noch schnell beim Supermarkt um die Lebensmittel zu ergänzen, während ihr Mann mit der S-Bahn nach Freimann fährt und unterwegs seine mails liest.
Schnitt: Punkt 7:45 sind beide an ihren Arbeitsplätzen.
Der Stromzähler hat Nutzungsdauer und Verbrauch aller genutzten Geräte sekunden-genau gespeichert und den unterschiedlichen Tarifen zugeordnet. Die smartphones haben die Bewegungsprofile beider aufgezeichnet und mit den Daten der Vormonate korreliert und die Abweichungen vom persön-lichen Durchschnitt ebenso bemerkt, wie die vom Durchschnitt der anderen Bürger mit ähnlichem Profil. Die eingeschalteten smartphones, die damit verbundene Nutzung und die darauf installierten Apps individualisieren das Profil bis hin zu Blutdruck und Stress. Diese Informationen werden zwar nicht sofort an Dritte weitergeleitet, doch sobald sich in der Tagesnutzung Gates zu Schnittstellen Dritter öffnen, fließen viele Informationen unbemerkt dorthin. Sie sind dann schon personalisiert und rutschen automatisch in die jeweiligen Fächer.
Fahrkartenreservierungen, Onlinebanking, ja ganz besonders Online-Spiele verfeinern das Profil und wer dumm genug ist, dauernd selfies von sich und seinen Lebensfreuden zu posten, hat inzwischen sogar sein Aussehen so digitalisiert, dass man mit spezieller Software Gesichter bestimmten Personen zuordnen kann.
Und schon kommt mit „FindFace“ die erste dazu entwickelte App auf den Markt. Sie zeigt die grundlegende Veränderung, die die Gesichtserkennung mit sich bringt: Man kann nicht mehr voraussetzen, in der Öffentlichkeit anonym zu sein. Ein flüchtiges Foto reicht schon aus, um identifiziert zu werden. Die Sicherheitsfirma Kaspersky hat die übrigens in Russland entwickelte App getestet. Mit idealen Fotos in guter Qualität erkannte es im russischen facebook namens VK neun von zehn Personen. Mit Fotos schlechterer Qualität funktionierte es laut eines Blog-Eintrags nicht ganz so gut. Kaspersky bietet auch Tipps an, wie man sich der Gesichtserkennung entziehen kann: Man solle etwa stets nur ein Foto als Profilbild nutzen und alle älteren löschen. Das mache es der Software schwer.
Natürlich könnte man jetzt einwenden, dass Menschen selbst schuld sind, wenn sie ihre Bilder bei VK hochladen. Aber es geht um viel mehr als das russische soziale Netzwerk. Das wirklich Interessante ist der Algorithmus, der hinter FindFace steckt. Er nennt sich FaceN und nutzt laut seinen Machern Techniken des maschinellen Lernens, um Gesichter effizient zu erkennen. Dabei soll er Strukturen analysieren, die sich nicht verändern, wenn jemand zum Beispiel eine Brille aufsetzt oder Make-up aufträgt.
Bei einem Wettbewerb der University of Washington, bei dem es darum geht, Gesichter in Unmengen von Fotos zu erkennen, erreichte das System eine Trefferquote von über 70 Prozent und schlug damit knapp die Konkurrenz aus dem Hause Google.
FindFace ist nur eine Anwendung dieses Algorithmus. Sie ist so etwas wie das Aushängeschild. FaceN könnte mit jeder Bilderdatenbank arbeiten.
Ist das gefährlich?
Und wie, bestätigen zehntausende Erdogan-Gegner, bei denen ihr Datenprofil genügt, sie jetzt in riesigen Verhaftungswellen auszusondern. Man darf sicher sein, dass sich im Datensatz jeder dieser Personen etwas regierungskritisches finden lässt, das für eine richterliche Verurteilung ausreicht.
Kaum vorstellbar, wenn dank anhaltender Asylhysterie in einem deutschen Bundesland eine demokratiefeindliche Partei mit in die Regierung kommt und zufälligerweise den Innenminister stellen würde - die damit verbundene völlig legale Hoheit über die Informationssysteme könnte Millionen Kritikern plötzlich ein elektronisches Kainsmal verpassen!
Was wie unglaubliche Fiktion klingt, ist längst kalte Realität, denn die neuen optoelektrischen Übertragungswege lassen Datenraten von unvorstellbaren Ausmaßen und unvorstellbar kurzer Zeit zu.
Dicke und ungesund Lebende werden, wie heute schon in England und USA, mehr Krankenkassenbeiträge zahlen, Menschen mit chronischen oder angeborenen Krankheiten auch. Wer sich nicht passend zum Schema verhält, bekommt keinen Zutritt zu bestimmten Lebensbereichen. Das Verhalten wird permanent gemessen, meist freiwillig, weil es ja so hip ist. Erfolgreiche Geschäftsleute drücken stolz auf digital Armbanduhren, die in den Blutdruck-Messmodus und auf Aktivitätenzähler umschalten, sagen, sie müssten noch 6000 Schritte laufen und übertragen dann alles ganz easy auf ihr smartphone, das es alsbald auf den heimischen Rechner schickt. Da kann der übergewichtig kurzatmige Gesprächspartner nicht mithalten, seine Devise „no sports“ wird von der Krankenkasse alsbald als mangelnder Wille zur Mitwirkung interpretiert und in höheren Beiträgen sanktioniert. Ist doch gut, wenn die Gesunden nicht für die Kranken und die Nichtraucher nicht für die Raucher, die Abstinenzler nicht für die Alkoholiker, die Ruhigen nicht für die Gestressten, die Kinderreichen nicht für die Kinderlosen, die Normalfahrer nicht mehr für Raser und die Bahnfahrer nicht für umweltfeindliche Autofahrer zahlen müssen... merken sie was?
Die Solidargemeinschaft namens Gesellschaft zerbricht!
Auch der Redner, der so begeistert von der Datenzukunft spricht, wird nicht mehr als Redner auftreten dürfen, weil das System bemerkt hat, dass er ein miserabler Rhetoriker ist - er darf im „Innendienst“ weiter forschen. Nicht schlimm, denn alle seine Gedanken werden in Vorträgen bald von Ideal-stimmen vorgetragen und auf 3-D-Idealmenschen projiziert, damit die „message“ optimal rüberkommt. Die von den Zuhörern freiwillig mitgeführten Geräte wie smartphones oder wristbands oder gar chip-implantate, werden dabei messen, wer zuhört und wer positiv reagiert, die Negativen werden elektronisch ausgesondert und in andere Räume dirigiert.
Nichts anderes verspricht die in USA schon praktizierte „show on demand“, bei der nur der zahlt, der auch lachen muss und die den Redner so steuert, dass er möglichst bei allen Anwesenden Lacher generiert.
Klingt lustig und übertrieben, aber davon ist mehr Wirklichkeit als wir ahnen. Wenn drei Personen an einem Tisch über die exakt gleiche google-Adresse günstige Weinangebote oder Reisen mit den exakt gleichen Suchwörtern suchen, werden sie unterschiedliche Ergebnisse bekommen. Sie richten sich einerseits nach dem „Ranking“ der genutzten smartphones und andererseits nach dem im sog. „Re-Targeting“ jeweils gespeicherten Suchverhalten der Nutzer. Es kann also sein, dass der edle i-phone-Nutzer mit gehobenem Lebensstil die Billigangebote seines Gegenübers nie gezeigt bekommt. Das Schlimme ist: je mehr wir unsere smartphones nutzen, desto unumkehrbarer sind die individuellen Differenzen zu jedem anderen Nutzer.
Man kann dies als nützlich oder auch schädlich ansehen: in einem Test-Supermarkt der Zukunft in Deutschland kaufen Versuchskunden ausnahmslos mit Kundenkarte ein. Die wird in den Einkaufswagen gesteckt und schon erscheint auf dessen Display die persönliche Begrüßung. Je nach Einkaufsgewohnheiten leiten Richtungs-pfeile im Display den Kunden zu seinen Lieblingswaren und den dazugehörigen Sonderangeboten. Wer nur eine Wunschware eingibt , wird unterwegs auf dazu passende Artikel hingewiesen, wer Nudeln sucht kommt an Soßen, Käse, Ketchup und Hackfleisch ebenso vorbei, wie an Pesto oder frischen Tomaten. Je nach Auswahl optimiert das Programm den Weg, sobald Spinat und Gorgonzola gewählt wurden, fallen Tomatenvarianten weg und es werden Knoblauch und Rotwein angeboten.
Erste Auswertungen der Versuche zeigen, dass die Kunden dem Einkaufswagen-Navi so eng folgen, dass sie andere Artikel und Varianten nicht mehr wahrnehmen, weil’s ja so praktisch und bequem ist.
Verknüpft man die Daten des Einkäufers mit seinen gewählten Waren, Wochentagen und Jahreszeiten weiß Big-Data auch schnell, wie es um die Gesundheit und Kondition des Einkäufers steht. Übergewichtige mit Bluthochdruck könnten dann erleben, dass ihm das Display im Einkaufswagen von der Haxe abrät und dafür Putenschnitzel empfiehlt, statt fettem Käse lieber leichten Quark und mehr Gemüse. Menschen mit Alkohol-Affinität werden minütlich über die Gefahren des Konsums informiert und zum Umstieg auf softdrinks oder Wasser animiert. Erdnussflips und Nüsse fallen ebenso raus, wie alle Dickmacher. Der Warenkorb des Kunden sieht an der Kasse entweder anders aus, als geplant - dann wird der Kunde mit Boni belohnt. Oder er hat sich durchgesetzt und muss damit leben, dass die Informationen seines ungesunden Lebenswandels alsbald auch die Krankenkasse erreichen...
Ach, bis das kommt - da hat die Politik dem doch längst einen Riegel vorgeschoben.
Falsch! Es ist schon da - jeder Einkauf der Kundenkartenkunden wird minutiös verbucht und die Daten warten wie eine Zeitbombe nur auf den, der sich dafür interessiert. Aus lauter Gier auf die Schnäppchen und Rabatte verheißende Karte überlesen die meisten Kunden in den Geschäftsbedin-gungen, dass sie das Recht an den gewonnen Daten an das Kundenkarten-Unternehmen abgetreten haben, sobald die Karte aktiviert wird. Haushaltskarten, Kundenkarten, Tankkarten, Bahncard, Bonusmeilen, natürlich auch Kredit- und Bankkarten weben ein Netz, aus dem es kein Entkommen gibt.
Junge Menschen sind diesbezüglich geradezu naiv: sie verschulden sich bei download-Portalen bis zum Mahnbescheid und wundern sich später, warum sie weder Kredite bekommen, noch Access zu bestimmten Lebens- und Arbeitswelten. Sie haben sich in jungen Jahren als unzuverlässig erwiesen. Doch während wir Menschen Adoleszenzdefizite etwa mit Jugendstrafrecht oder Führerschein auf Probe ausgleichen, vergessen die unermesslichen Speicher von Big-Data nichts. Und sie verzeihen nichts. Und noch schlimmer: es ist schlichtweg unmöglich, die weltweit hinterlegten Daten zu korrigieren oder zu löschen. Sie sind wie Viren: sobald die Verbindung zu einer externen Datenbank entsteht, kommen die persönlichen Daten, die eben im Einwohnermeldeamt korrigiert wurden, über die Krankenkasse, das Finanzamt oder Inkassoverbünde wieder zurück. Einmal schuldig, immer schuldig - und wenn über den Daten tausendmal „deleted“, „invalid“ oder „confidential“ steht.
Das liegt auch daran, dass selbst in maßgeblichen Kreisen der Politik der Irrglaube „wer sich nichts zu schulden kommen lässt braucht doch nichts zu befürchten“ herrscht und man immer noch meint, es gäbe sichere Daten. Dabei hat die Datenwut längst Bereiche ergriffen, die uns alle betreffen: Wohngebiete werden systematisch nach Straßen katalogisiert und in Rankings eingeteilt, wer in schlecht eingestufter Lage lebt, dessen Ranking ist tatsächlich „standard and poor“, er erzielt weniger Miete, verkauft zu geringeren Preisen, bekommt eine schlechtere Bonität und all diese Informationen schlagen auf sein persönliches Lebensprofil durch. Denn ganz oben, an der Schnittstelle zwischen Staat und Banken, da ist rating Pflicht: Die Rating-Agenturen sind gesetzlich beauftragt, die Kreditfähigkeit aller Marktteilnehmer zu bewerten, alle müssen sich danach richten. Die US-Finanzaufsicht Security Exchange Commission (SEC) soll zwar die Agenturen überwachen, gibt ihnen aber freie Hand in der Definition der Kriterien. Die Bewerteten selbst finanzieren das Rating. Die Agenturen bleiben auch bei vorsätzlichen Falschbewertungen haftungsfrei, weil sie das Grundrecht der „freien Meinung“ (1. Zusatzartikel zur US-Verfassung von 1791, Bestandteil der Bill of Rights) in Anspruch nehmen können.
Einfach gesagt: gottgleich können die Ratingagenturen einstufen und in ihrem Sog wird alles bewertet, was den Kriterien dient. Also Immobilien, Bruttosozialprodukt, Einkommen, Kaufkraft und Verbraucherverhalten. Damit ist die Begründung für big-data ganz unten angekommen, bei uns, den Usern.
Wer dem entkommen will, müsste als Kleinkind anfangen, eine Zweit-Identität aufzubauen - und hätte doch allein wegen Wohnort, Familie und Ausbildung keine Chance. Was wir bekommen werden, ist eine Gesellschaft des kontrollierten Wohlverhaltens, weil alle Abweichungen von jedweden Normen unerbittlich auffallen werden. Das genau geschieht jetzt in der Türkei. Darum ist der Gesellschaftsprozess dort undemokratischer, als wir vermuten. Und doch zeigt er lediglich auf exemplarische Weise, was in allen Gesellschaften möglich ist, wenn es zu einem gravierenden politischen Umschwung kommt - ist da „wer sich nichts zu Schulden kommen lässt hat auch nichts zu befürchten“ noch das richtige Denkmodell?
Unterhaltsamer formuliert ist das Online-Opportunismus als Vorteil verkauft. Platt gesagt: nur wer mitmacht bekommt das Hauptgericht.
Welches Hauptgericht? Ein überzeichneter Blick in die technisch bereits mögliche Zukunft:
Jeder bekommt das, was zu ihm passt. Bei einer mittelgroßen Convention haben die übermittelten personal informations vor dem meeting der Küche signalisiert, wie viele Fleischesser im Saal sind und wie viele Vegetarier. Vorteil: alle sind als Eingeladene schon positiv eingestuft, Abweichungen ergeben sich nur im persönlichen Profil, die Antwort auf die Einladung als erstes wichtiges Selektionskriterium. Sie geben dem Fleischliebhaber aber nur dann sein Steak, wenn seine Cholesterin- und Stoffwechselwerte stimmen und seine Bonität reicht, sich das 300g Steak zu leisten. „Wir wollen nur vermeiden, dass jemand durch unser Essen zu Schaden kommt“, wird man vom Küchenchef hören, wenn die Dame rechts Milchreis mit Zimt bekommt und der Herr rechts den Gemüseteller ohne Allergene. Toll, dann kann man doch schon am servierten Essen sehen, ob einer gesund ist! Man hat nur nichts davon, denn der table-mentality-analyzer hat längst herausgefunden, ob man als Gesprächspartner zu ihm passt und jedem Gast am Tisch via App auch signalisiert, wer welche politische Denkrichtung hat, welche Vorlieben, aber auch welche Macken und Nachteile. Die Gesellschaft gruppiert sich.
In den meisten Fällen wird es nicht so weit kommen, denn der „pre-party-profiler“ hat schon beim Einladungsversand selektiert, dass nur im sozialen Status, Bildungsstand, Alter und Einkommen zueinander passende Menschen eingeladen werden und ihnen einen zum Fahrzeug passenden Platz im „Valet-parking“ zugewiesen. Das klingt nach Zukunftsmusik, wird aber von top-event-Agenturen schon ebenso berücksichtigt, wie von den Ministerialbeamten die den Neujahrsempfang mit dem Bundespräsidenten planen.
Wo die Vorauswahl nicht möglich ist, wie etwa im Umfeld von öffentlichen Ereignissen zwischen Wagner-Festspielen und Kirchentag, scannen die vernetzten Systeme alle Gäste nach Zutritt am Veranstaltungsort, erfassen deren personal-devices und synchronisieren sie mit dem hauseigenen event-management-system, um die Gäste durch elektronisch gesteuerte App-Hinweise so leiten, dass doch wie gewünscht nur Menschen gemeinsam an Tischen sitzen, die mehr als 60% mentale Übereinstimmung haben. Die Sitzplatzeinteilung erfolgt dann gemäß der möglichen Speisenfolge und das System störende Sonderwünsche können bis 10 Minuten vor Saalöffnung berücksichtig werden.
Ein zentrales WLAN-System leitet die Vorträge jedem Gast in passender Sprache und Lautstärke über sein smart-device direkt ins Ohr oder macht sie auf der screen sichtbar und das gesamte food-and-beverage-management des Abends wird ebenfalls unmerk-lich online mit den einzelnen Gästen abgewickelt.
Das System ist so ausgeklügelt, dass ein zentraler food-storage-block im Küchenbereich selbständig Zutaten und Garzeiten miteinander verbindet und die individualisierten Teile des Menues von den Kellnern zielgenau verteilt werden können, weil ihr „On-Site-service-app“ sie punktgenau bis zum einzelnen Gast leitet, sodass er im Vorbeigehen am „beverage-distributor“ auch noch das nachgeorderte Getränk mitnehmen kann. Solange es noch Kellner gibt...
Nur wenige Jahre später wird sich in der Mitte jedes Tisches ein „food-distributor“ befinden, der über ein Verteilsystem in der Etage darunter jedes personalisierte Essen mit einem automatischen Aufzug bis in die Zentralsäule des einzelnen Tisches befördert und dem Gast von der Tischmitte aus hinstellt. Sprachunkundige und überlastete Kellner sind dann keine Störung mehr.
Individueller, unauffälliger und besser geht es doch gar nicht! Endlich ungestört leben und nur das bekommen was man möchte! Her mit den Apps, ich gebe Euch dafür gern alle meine Daten!
Wollen Sie das auch?
Dann investieren Sie in „member“, das neue weltweite Datenverbundsystem, das nach dem Muster des Mobilitäts-Netzes UBER jederzeit alle Ihre persönlichen Wünsche koordiniert, Sie vor allem schützt, was nicht zu Ihnen passt und Ihnen als erstes „best-practice“_Start-up an der Börse Renditen von jährlich mehr als 17% verspricht.
Wollen Sie das nicht?
Dann müssen Sie es sehr schlau anstellen um etwa ein neues Auto zu kaufen, das nicht automatisch mit Big-Data vernetzt ist und zu dem man Ihnen neben dem Kaufvertrag eine separate Vereinbarung zur Daten-verwendung überreicht - das gibt’s nämlich noch nicht, obwohl die Autos dank e-call schon alle vernetzt sind.
Verweigern Sie alle Kundenkarten und Bonussysteme, die nur ihren Warenkorb an Big-Data weiterleiten und ihre Daten immer wertvoller machen, kaufen Sie nie online, suchen Sie auch keine Waren, Kontakte, Reisen, Häuser, Autos oder Frauen online, nicht mal zum Spaß, denn wer einmal Porno guckt, hat für immer sein Schweinchen im Netz...
Halten Sie sich von chatrooms fern, geben sie nicht Ihren Senf zu im Internet diskutierten Themen, werden sie nicht Mitglied von communities und schreiben sie nicht zu viel auf die Seiten Ihres Clubs, schon gar nicht mit zu vielen benamten Fotos. Kaufen Sie nicht aus reiner Bequemlichkeit alles online, Amazon-Kunden sind gläserne Menschen. Keine Ölgemälde, Oldtimer, Häuser, keinen Schmuck und keine teuren Accessoires aus dem Internet, sonst blühen Ihnen alsbald nicht nur die Rosen dauernde Werbung, sondern auch die Dornen unangenehmer Fragen des Finanzamts, das spätestens mit der Einführung der digitalen Steuerklärung und der Abschaffung des 500 Euro-Scheines alles wissen wird. Doch das ist ein eigenes Thema - wir müssen nur wissen, dass sie es wissen!
Aber wer sich wohlverhält hat ja nichts zu befürchten -
ausser wenn sein Navi, seine integrierten Data-Links oder das smartphone dem
Verkehrs-rechner und später dem Richter verraten, dass seine
Stundengeschwin-digkeit zwischen Frankfurt und Kassel einen fortgesetzten Tempoverstoß nachweist oder bei einer Dienstfahrt eine längere
Pause auf dem Parkplatz eines Stundenhotels zu verzeichnen ist. Berufskraftfahrer leben längst mit dieser
Technologie und lernen jetzt deren Grenzen kennen, wenn sie, wie im Juli 2016 bei
Mannheim, so lange zwischen dem Bildschirm mit den neuen Zielanweisungen des
Disponenten, dem Navi und dem mailsystem hin- und herschauen, bis sie das
Stauende übersehen und auf einen Schlag vier Leben samt dem eigenen
ausgelöscht werden. Denn einen Abstandswarner hatte der LKW nicht.
Alles, was wir tun, ist interessant genug, festgehalten zu werden. Aus dem Fingerabdruck ist ein permanentes Scanning aller Lebensumstände geworden, deren Daten so wertvoll sind, dass man nicht davor zurück-schreckt, sie auch auf kriminelle Weise zu erlangen. Wir müssen uns dessen bewusst sein, um überhaupt entscheiden zu können, wer was mit diesen Informationen tun darf.
Vor allem aber müssen wir lernen, uns besonnen zu verhalten und nicht jedem Hype zu verfallen, nur weil er mehr Bequemlichkeit verspricht. 52 % der Menschen werden es wegen ihrer gegebenen Veranlagungen zu Sucht nicht schaffen, den Dauerversuchungen zu widerstehen. Das zeigt der raketenhafte Aufstieg von Pokemon Go, der im Juli 2016 die tot geglaubte Firma Nintendo zum Börsenrenner macht: mit dem ersten Spiel, bei dem Millionen Menschen freiwillig jeden Meter ihres Weges preisgeben, um an virtuellen Orten virtuelle Figürchen zu jagen. Deshalb müssen wir eine neue Ethik formulieren und deren Umsetzung einfordern, die klare Grenzen zum Schutz des Einzelnen setzt. Sonst werden wir das trügerische Gefühl, frei und ungestört zu leben, mit spürbaren Einschränkungen bezahlen.
Joh. Hübner
2. August 2016
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